Was bedeutet es eine Nation an den geistigen Wurzeln zu verletzen, was sind die Indikatoren hierfür? Um diese Frage zu beantworten muss man sich lediglich einmal die Türkei ansehen. Doch sind auch unsere Augen wund; katarakthaft. Alterung, falsche Ernährung, ultraviolette Strahlen, äußerliche Schläge, metabolische Erkrankungen und Arzneien wie Kortison führen zur Trübung der Linsenschichten. Und so treten zunächst Beeinträchtigungen der Weit- und Nahsichtigkeit auf. Schließlich kommt es zu erhebliche Sehfehlern, die bis hin zur völligen Erblindung führen können. Religiöse und nationale Sehfehler sind nicht sehr viel anders geartet. Für all jene die trotz dieser vielfältigen Angriffe noch nicht vollends erblindet sind, sei das dieswöchige Dilemma mit "Schweizer Krankheit" betitelt!
Dr. Serol Teber wurde 1938 in Istanbul geboren. Er studierte an der Medizinischen Fakultät der Universität Istanbul und spezialisierte sich dort am Neuropsychiatrischen Klinikum. Nach dem Militärputsch vom 12. März (1971) flüchtete er nach Deutschland. Zwanzig Jahre war er an verschiedenen psychiatrischen Kliniken sowie an der Landesklinik Viersen tätig. Arbeitsimmigration und Verhaltensstörungen, Die Vermenschlichung der Natur, Politisch-Psychologische Notizen, Leben nach Foltererlebnissen, Das Konzentrationslager-Syndrom, Tod des Geistes, Leben als Immigrant und Identitätswechsel, Melancholie: Eine normale Anomalie, Die melancholische Welt des Tevfik Fikret*, Ein wissenschaftliches Feenmärchen: Familien- und Historienroman Freuds u. a. Bücher von ihm wurden veröffentlicht. Nach seiner Rückkehr in die Türkei führte er seine schriftstellerische Tätigkeit fort und moderierte auch wöchentliche Rundfunksendungen. Seine Rundfunkbeiträge sind über die Adresse http://www.acikradyo.com.tr/default.aspx?_mv=case&cas=942 abrufbar und der Lektüre wert. Ursprünglich war geplant die Rundfunksendungen über 26 Wochen fortsetzen doch endeten die Rundfunkbeiträge nach der 15. Sendung; am 10. November 2004 beging Teber leider Suizid.
Ich beziehe mich also einerseits auf eine solche (wissenschaftliche) Kapazität und andererseits auf persönliche Beobachtungen meiner eigenen Person, meiner Kinder, Schüler und deren Eltern…
Vor 26 Jahrhunderten vermerkte der Historiker Herodot dass "Der Teufel selbst Begleiter derer ist, die ihre Heimatstadt verlassen". "Demzufolge geht mit Menschen die ihre Heimatstadt verlassen und wo anders hin ziehen etwas merkwürdiges vor, so dass man sich vorstellte der Teufel selbst wäre ihr Weggefährte" sagt Dr. Serol Teber.
Die erste Arbeit aus medizinischer Sicht zum Thema Immigration soll vom Basler Johannus Operius stammen. Dieser veröffentlichte 1678 ein Buch mit dem Titel "Nostalgia und Heimweh". Bei Bauern die aus den umliegenden Gebirgsregionen nach Basel kamen um sich als Tagelöhner zu verdingen beobachtete man eigenbrüterisches Verhalten, Angstzustände, Halluzinationen, allgemeines körperliches Unwohlsein, Durchfall und Magenverstimmungen. Daher die Bezeichnung "Schweizer Krankheit". Der französische Arzt Dr. Larey nannte es "Nostalgie". Gründlicher untersuchte der Österreicher Dr. Alain die Materie. Während des 1. Imperialistischen Aufteilungskriegs ließ Dr. Alain drei muslimisch-tatarische Kriegsgefangene voneinander trennen. Jeder durfte nur mit österreichschem Militärpersonal, deren Sprache sie nicht verstanden, verkehren. Nach einer Weile traten bei den Tataren Depressionen, Angstzustände und Verzweiflung zutage. Der Deutsche Psychiater Grepellin bezeichnete diesen Zustand als "Entwurzelungssyndrom".
"Schon die Entbindung vom (heimatlichen) Raum ist erheblich. Denn jeder Raum beinhaltet eine spezifische psychische Zeit; der Zeitfluss ist ein anderer. Bei solchen die keinen Sinn in der Spezifik dieses Flusses erkennen können ist die Situation dann noch viel schlimmer!" sagt Dr. Teber.
"Jede Muskelbewegung hat eine eigene psychopathologische Geschichte." soll Wilhelm Reich gesagt haben.
"Verbreitete Schmerzen im Rückrat, Kopf- und Magenbeschwerden sind Resultate der Angst vor dem Raum in dem man zwar lebt, der aber fremd bleibt. Solche anatomische Reaktionen sind reflexartige Versuche des Bewusstseins, sich gegen Angriffe der Außenwelt mit einer Art Panzer abzusichern. Der unsichtbare, unbekannte Feind wird immer rückwärtig lauernd vorgestellt. Auch bei Tieren ist dies zu beobachten; als erstes ziehen sich die Nackenmuskeln zusammen."
Aus dieser Perspektive gesehen, ist die Deformation von Fazil Say* besser verständlich, man erkennt die Motive seines Fluchtsyndroms besser. Denn auch die Schweiz wird kein Vaterland für Abkömmlinge aus der Familie der (geistig) Heimatlosen. In ihrem Rücken werden sie niemals Sicherheit verspüren. Auch wenn sie uns noch so sehr auf den Leib gerückt sind und alle möglichen Machtapparate ihnen zur Verfügung stehen, fühlen sie sich einfach nicht in Sicherheit. Deshalb die Haltungslosigkeit und die daraus resultierende Angriffslust.
Nun aber zu uns selbst…
Der verehrte Mufti von Gümülcine (Komotini, Griechenland), Meco Cemali Efendi, zeigte mir gegenüber oft freundschaftliche Nähe und entband mich auch nicht aus seinen Gebeten. Übrigens hatte er einen dermaßen guten Draht zu Yorgo Papandreu, dass er diesem meine Situation persönlich übermitteln konnte. Der Mufti erzählte mir von den Prophetengefährten die sich im abessinischen Exil die Pulsadern aufschnitten, empfahl mir immer wieder Geduld und sprach mir Mut zu. Auch wusste er von den mekkanischen Auswanderern zu berichten, die in Medina unter Heimweh litten. "Allah, mach uns Medina lieb. So lieb wie Mekka und noch darüber hinaus! Allah segne die medinensische Luft mit Gesundheit." betete der Prophet. Und wir wissen dass Medina deshalb "erleuchtet" wurde, von den Engeln beschützt wird und der Antichrist die gesegnete Stadt nicht betreten kann.
Vor allem ist die Immigration ein Trauma. Wir sind die Kinder Adams, der vom Paradies in diese Welt übersiedelte. Aus diesem Grunde ist unser Stoff aus Trauer gewebt. Aus profaner Sicht sind wir nicht hier um Wurzel zu schlagen, nicht um uns dem Antlitz dieser Welt anzubandeln. Unser wahres Vaterland ist das Jenseitige Land. Dies haben wir nicht vergessen. Und nachdem wir einen bestimmten Raum als Heimat verinnerlicht haben, ist es unsere Pflicht Gottes Namen über den gesamten Erdball zu verkünden.
So wurde uns Anatolien zur Heimat bestimmt. Und das Angesicht Erde wurde uns zum Tempel.
Denjenigen die uns aus Anatolien und schließlich aus der Welt ausreißen wollen, werden wir nur mit einem solchen wahrhaftigen Bekenntnis und einer solch gefestigten Ideologie niederwerfen!
Mustafa Saka
23. Dezember 2007
(Zeitschrift Baran, Nr. 51)
Anmerkungen des Übersetzers:
● Tevfik Fikret: Türkischer Dichter (1867-1915). Gilt als Hauptvertreter der Modernisierung der türkischen Literatur. Stand besonders unter dem Einfluß der impressionistischen französischen Literatur.
● Fazil Say: Gegenwärtig international bekannter türkischer Musiker, der mit seiner Ankündigung ins Schweizer Exil zu gehen weil ihm die Türkei "zu islamistisch geworden" sei für öffentliches Aufsehen sorgte.
Übersetzung: Tankred Bolivar